Ein Weg zum Abschalten und Auftanken
Die neue alte Lust am Pilgern
In wenigen Stunden können Reisende heute per Flugzeug einen anderen Kontinent erreichen. Vor hundert Jahren waren dazu noch wochenlange Schiffspassagen nötig. Heute überwinden manche Berufspendler mit dem Zug oder dem Auto täglich Strecken, die früher als Reisen angesehen wurden. Und dennoch machen sich Menschen wieder zu Fuß auf die Reise, nach dem Vorbild ihrer Vorfahren.
Leistungsdruck, Zeitnot und mangelnde Bewegung bestimmen häufig den Berufsalltag, darunter leidet die Gesundheit. Pausen sind notwendig, um den täglichen Anforderungen standzuhalten. Abschalten ist wichtig, sich Auszeiten zu nehmen, eine Verlangsamung des Lebenstempos zu erreichen – innerlich wie äußerlich. Pilgern scheint sich dafür gut zu eignen, zu Fuß unterwegs zu sein, mit einem äußeren und einem inneren Ziel. Das Laufen ist eine Fortbewegung nach menschlichem Maß: Einen Schritt vor den anderen setzen und dabei nur an das direkt erreichbare Ziel denken, das Gewicht des Gepäcks auf den Schultern spüren, den Untergrund beachten und genießen, wie sich die Landschaft unter dem Blickwinkel verändert – als Pilger kann man unterwegs und zugleich ganz bei sich sein.
„Ich habe alles bei mir, was ich in den nächsten Tagen brauche“, welch ein beruhigender Gedanke. Die Sorge gilt nur dem nächsten Schlafplatz, einer Mahlzeit und vielleicht den Blasen am Fuß oder einem Schattenplatz für die Rast. So geht es Tag für Tag. Viel Zeit bleibt dabei, um die Umwelt zu betrachten, Harmonie zu empfinden, sich über Begegnungen zu freuen – Zeit, die man vielleicht auch spirituellen Erfahrungen widmen möchte.
Santiago, der Ganges, Mekka, Jerusalem
Das war vermutlich schon vor 800 Jahren so – in Europa und anderswo. Denn das Pilgern kennen andere Religionen auch. Ob Hindus an den Fluss Ganges, Muslime nach Mekka oder Juden nach Jerusalem gehen – Es gibt viele Gemeinsamkeiten beim Pilgern, beispielsweise die geistliche Vorbereitung, die solch eine religiös motivierte Reise verlangt.
Im Heiligen Jahr 2010 erreichten 237 000 Pilger das Grab des heiligen Jakobus in Santiago de Compostela zu Fuß. Sie waren mindestens 100 Kilometer gelaufen. Unter den Pilgern waren etwa 14 500 Deutsche. Dabei sind die Wanderer nicht mitgezählt, die in Deutschland auf Jakobswegen unterwegs waren. Denn Teilstrecken werden in Friesland, in Vorpommern, im Rheinland, in Sachsen oder in Bayern erforscht, erwandert, beschildert und mit Herbergen erschlossen. Denn bereits im Mittelalter existierte ein vielfältiges Wegenetz, das von einem heiligen Ort zum nächsten führte. Schon damals war das Pilgern eine europaweite Bewegung.