Die Suche nach Darstellbarkeit

Die Suche nach Darstellbarkeit

 „Atlas – Mikromega“ Werke von Gerhard Richter im Münchner Lenbachhaus

In der gewaltigen unterirdischen Halle des Kunstbaus, die vom Mittelgeschoss der U-Bahnhaltestelle Königsplatz aus zugänglich ist, hängen in einer langen Reihe gerahmte Tafeln. Die ersten zeigen Schwarzweiß-Aufnahmen, Familienbilder, private und unbekannte Portraits. Dann folgen Zeitungsausschnitte, Naturaufnahmen, Skizzen und Collagen. Diese Sammlung, der „Atlas“, begleitet Gerhard Richters Werdegang und erlaubt vielfältige Einblicke in das künstlerische Vorgehen des Malers.

Dass aus kleinen Ideen und Skizzen monumentale Werke entstehen können, das soll die Ausstellung „Mikromega“ demonstrieren. Der Name ist Programm, Mikromega bedeutet griechisch: „klein-groß“. Die 802 Tafeln fügen sich selbst zu einem Riesenbild. Aus diesem Kosmos gewinnt der 1932 in Dresden geborene Künstler seine Ideen. Seit 1962 arbeitet er daran, jetzt hat er ihn zum Abschluss gebracht.

Präzision und Zufall

In der Ausstellung vermittelt sich den Besuchern zunächst Richters Präzision in der Wahrnehmung der Welt und, Schritt für Schritt, sein Nachdenken über ihre Darstellbarkeit. Das Spiel mit Schärfe und Unschärfe, wie es in seinen fotografisch gemalten Bildern auftaucht, das Suchen nach Strukturen, die Beschäftigung mit Farben zwischen Zufall und Kalkulation – all dies sind Stationen seines künstlerischen Weges.

Wenn zahlreiche Luftbildaufnahmen von Städten in Schwarzweiß nebeneinander stehen, abstrahiert sich die Realität; der Blick verliert sich in Strukturen, anstatt einzelne Gebäude zu fokussieren. Auch Aufnahmen von Felsformationen der Alpen und Eislandschaften Grönlands oder von Wolken und Wellen erhalten diesen Charakter von Studien. Es sind oft ähnliche Motive, die in nur wenigen Farbnuancen nebeneinander stehen.

Wenn ein Amateurfotograf überlegt, welchen Teil der Wolkengebilde er am Himmel fotografieren möchte, begibt er sich bereits in Richtung dieser Freiheit, mit der abstrakte Kunst sich ihre Form sucht.

Der abstrahierende Blick

Innerhalb des „Atlas“ sind Fotos von Richters Frau und Kind zu sehen. Im Katalog schreibt Helmut Friedel, der Chef des Lenbachhauses, dass dieser Teil der Tafeln dennoch nicht wie ein privates Album wirke. Denn der Blick sei der nüchtern registrierende des Fotografen, der den Aufnahmen einen objektivierenden Charakter zu verleihen scheint. Dem entspreche der häufig kühl distanzierende Ausdruck der Porträtierten, bemerkt Friedel und fügt an: Die Fotos psychologisch interpretieren zu wollen, wäre unangebracht, zumal man weder Intentionen noch Auswahlkriterien der berücksichtigten Bilder kenne. „Doch ist es auffällig, wie Richter selbst hier bewusst oder unbewusst von sich als privatem Menschen absieht …“, sagt der Museumsdirektor. Dass ein abstrahierender Blick den Betrachter herausfordert, lässt sich etwa bei der Sammlung der 100 Baader-Meinhof-Fotos erahnen, aus denen 15 Gemälde entstanden sind.

Die Anordnung der Themen und Tafeln des „Atlas“ hat Richter immer wieder geändert. Wenn auf Fotos, die Getötete nach der Öffnung der Konzentrationslager zeigen, pornographische Zeitungsausschnitte folgen, erschreckt diese Bilderfolge, auch durch ihre Kommentarlosigkeit. Bis zu welchem Grade ist Menschen ein abstrahierender Blick möglich?

Außerdem zu sehen: Studien zu Farben, ihre Wirkung miteinander und gegeneinander, der Spielraum zwischen Gestaltung und Zufall, wie Richter ihn auch bei seiner Gestaltung der Fenster im Kölner Dom ausgelotet hat. Zudem hängen an den Wänden meterhohe Teppiche – basierend auf vier Reproduktionen abstrakter Bilder, mehrfach gespiegelt und nachgewebt. Spiegelungen, Nebel, Brechungen, ordnende Kräfte und die Lust am Chaos – Gerhard Richters „Atlas“ zeigt, ebenso wie die daraus entstandene Kunst, seine Suche nach Erkenntnis. Der „Atlas“ wurde seit 1996 nach und nach von der Städtischen Galerie im Lenbachhaus erworben.

Katholische Sonntagszeitung, 46/2013.

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