Ab wann ist es unerträglich?
25 Jahre Frauenhaus der Berliner Caritas
Eine ehemalige Industriellenvilla – die Adresse ist nur der Polizei und Beratungsstellen bekannt. Lediglich, wer das aktuelle Passwort kennt, kommt rein. Es wirkt wie ein Spiel, ist aber bitterer Ernst: Bewegungsmelder, Spezialfenster, die Scheibe am Empfang aus Panzerglas. Dahinter sitzt eine zarte freundliche Dame. Seit vier Jahren macht sie ehrenamtlich mittwochs Pfortendienst. Sie ist 50, hat selbst Kinder großgezogen, besitzt Lebenserfahrung, will „den Frauen in Not helfen“. Pforte und Telefon sind Tag und Nacht besetzt. In einem Schrank ist Verpflegung, und es gibt Duschgel, Handtücher und das Nötigste für Notaufnahmen in der Nacht. „Das ist der wichtigste Raum im Haus“, sagt die Leiterin des Hauses Gabriele Kriegs. Hier muss entschieden werden, ob jemand aufgenommen werden kann. Eine Frau ruft an, sie scheint obdachlos, sie wird an andere Stellen verwiesen. Aktuelle Gewalterfahrung, das ist die „Eintrittskarte“, Bedrohung, Beleidigung, Freiheitsberaubung. Was ist schlimm? Ab wann? Nicht mehr auszuhalten? Die Frauen, die hier wohnen, haben meist sehr lange ausgehalten.
„Ich habe mich geschämt“
Sonja* kommt ins Beratungszimmer. Sie ist 50 Jahre alt, Berlinerin. Die zierliche Frau in Jeans hat dunkelbraune schulterlange Haare, goldene Ohrringe und sieht so warmherzig in die Welt, dass ein starker Kontrast zu dem entsteht, was sie aufzählt: Den Arm hat er ihr gebrochen, sie hatte Blutergüsse, ein kaputtes Auge, Nasenbeinbruch. Erst hatte sie eine eigene Wohnung. Schon in dieser Zeit sei ihr Mann oft ausgerastet, aber sie hätten sich wieder versöhnt und seien in eine gemeinsame Wohnung gezogen. „Dann ging‘s erst richtig los“, erzählt sie. Wenn er auf Montage war, hatte sie „eine Pause“. Die hat sie diesmal genützt, um sich in Sicherheit zu bringen: „Er hat gedroht, mich vom Balkon zu werfen“. Sonja zweifelt an der Gerechtigkeit: Damals, als er ihr das Nasenbein gebrochen hatte, war er eine Nacht in Haft und musste eine Geldstrafe von 4700 Euro zahlen, erzählt sie mit schiefem Lächeln. „Eigentlich müsste er sich schämen, aber ich habe mich geschämt.“ Vor zwölf Jahren hat sie das schon einmal durchgemacht mit einem anderen Mann. Sie war im gleichen Frauenhaus.
„Etwa 10 Prozent der Frauen kommen irgendwann zurück“, weiß Gabriele Kriegs. Alkohol, Drogen, Kriminalität seien die häufigsten Gründe für Gewalt. „Ob Wedding deutsch oder Wedding türkisch“, da sei kein großer Unterschied, es sei vor allem ein Problem der sozialen Schicht. Über den Kamm scheren könne man die muslimischen Probleme nicht, sie seien sehr vielschichtig. „Ob Kopftuch oder Zwangsheirat, wir betrachten immer den Einzelfall“.
Sozialarbeiterin Rianta Pfleiderer berichtet von einer Türkin, die seit drei Monaten hier ist. Ince* ist hier geboren, sie trägt Kopftuch, ist 29 Jahre alt und hat zwei Kinder von zwei und vier Jahren. Zwei Mal hat sie sich auf eine von der Familie arrangierte Ehe eingelassen. Sie hat eine Ausbildung, hätte hier gut selbstständig leben können, aber sie wird sehr von ihrer Familie bestimmt. Ihre Hoffnung war, in einer Ehe mehr Freiheiten zu haben.
Massive Symptome
Der erste Mann war gewalttätig, der zweite war direkt aus der Türkei geholt worden. Er spricht kaum Deutsch, wollte sich mit ihrem Geld selbstständig machen, hat es verspielt, sie physisch wie psychisch schlecht behandelt. Ince war mit Verdacht auf Multiple Sklerose im Krankenhaus. „Es sind massive körperliche Symptome, die eine psychische Ursache haben“, sagt die Beraterin. Ince habe einen hohen Bildungsstand, aber es sei wichtig, ihr Selbstbewusstsein zu fördern. Sie hat den Plan, allein mit ihren Kindern zu leben. „Ich denke, dass sie das auch durchziehen wird, aber es ist schwierig und sie braucht psychiatrische Begleitung. Das leiten wir übers Frauenhaus ein.“
Das Haus gleicht einer Burg
Das Haus ist geräumig, es hat hohe Wände, ist nicht sehr hell, ein wenig kühl, gleicht auch innen einer Burg. Ein Frauenhaus ist in erster Linie ein Schutzraum vor der akuten Gefahr für Mutter und Kinder. Ein Aufenthalt dient der Klärung der Situation, soll in Eheberatung, Erziehungsberatung und ähnliche Angebote münden. Es gibt Beratungsräume, Gruppenräume, ein Hausaufgaben- und ein Spielzimmmer für Kinder sowie eine Gemeinschaftsküche. Dort hat jede Bewohnerin ihren Spind mit den eigenen Vorräten. Die Frauen versorgen sich selbst, gehen einkaufen und zum Jobcenter. Wer aus der Umgebung stammt, wird an ein anderes Haus vermittelt, eine Bannmeile ist eingehalten. Im Fall von akuter Bedrohung könne eine Frau auch in einem anderen Bundesland untergebracht werden. Das seien jedoch Ausnahmefälle, betont Gabriele Kriegs.
„Wir haken mehr nach“
In den einfachen Zimmern der oberen Stockwerke wohnen die Frauen mit ihren Kindern möglichst selbstständig. Wenn die Frau zurückgeht, behalten sich die Mitarbeiter vor, zu klären, ob Kinder gefährdet sind. Dann kann das Jugendamt eingeschaltet werden. „In den letzten Jahren hat sich der Blick auf die Kinder verändert“, berichtet die Leiterin. „Wenn wir vor drei Jahren das Jugendamt angerufen haben, wurde oft nicht reagiert, weil man die Lage nicht richtig einschätzen konnte.“ Gabi Kriegs resümiert: „Auch unsere Arbeit hat sich dahingehend geändert, wir haken mehr nach“. Ab Juli wird ein neues Projekt, das „Betreute Einzelwohnen“ den weniger selbstständigen Frauen nach dem Frauenhausaufenthalt helfen. Kinder sollen zudem zur Stabilisierung und Beobachtung einen Malnachmittag mit einem Kunsttherapeuten besuchen können.
In Zukunft müssen die belasteten Familien insgesamt und damit auch die Männer in den Blick genommen werden. „Väter müssen mitberaten werden“, betont Gabriele Kriegs, denn sie muss oft mitansehen, wie Frauen zurückgehen, denen es nicht guttut. „Gewalt ist Kommunikationsmittel in manchen Familien“, das müsse man durchbrechen.
*Namen von der Redaktion geändert.
Katholische Sonntagszeitung, Mai 2008.